Judge Dredd hat die letzten Jahre eine Art Mini-Rivival erlebt. Neben dem sehr gelungenen Film des letzten Jahres besann man sich bei dem wöchentlich erscheinenden Comic auf längerfristig angelegte Storylines. Dies hat die Attraktivität der Serie deutlich erhöht. Mit „Day of Chaos“ ist nunmehr der neue große Geschichtsbogen in Form von zwei Sammelbänden erschienen. „The Fourth Faction ist der erste der beiden Bände.
Am Ende der vorhergehenden Geschichte „Tour of Duty“ war die Zeit der politischen Instabilität aufgrund der umstrittenen Minderheitenpolitik bezüglich der Mutanten und deren Behandlung in Mega City One beendet. Chief Judge San Francisco ist wieder genesen und er hat Judge Dredd in seinen Führungsrat berufen. Gleichzeitig wurde ein öffentlicher Skandal bezüglich der Vorgänge um Chief Judge Sinfield sowie Bürgermeister Ambrose vermieden.
„Day of Chaos“ startet mit einem von Judge Dredd angeführten Crackdown in Sektor 50. Die angestiegene Kriminalitätsrate in Mega City One soll durch eine umfänglich berichtete Polizeiaktion wieder in den Griff bekommen werden. Während dieser Aktion fragen die Judges nicht erst lange, sie schießen lieber gleich. Gleichzeitig lernen wir eine Widerstandsgruppe im Untergrund kennen, deren Ursprünge etwas rätselhaft sind. Daneben betritt eine andere Gruppe von Extremisten die Szenerie und fängt wahllos an, Bürger der Mega City One zu töten, schlicht weil sie Bewohner der Selbigen sind. Und zu guter Letzt gibt es da noch PJ Maybe. Unser Lieblingsserienkiller sitzt aktuell in der Patsche, nachdem er im vorhergehenden Band von Judge Dredd gefasst wurde. All diese Erzählstränge werden parallel nach vorne getrieben und intelligent miteinander verwoben.
Wurde durch John Wagner in „Tour of Duty“ die positive Seite des Charakters Dredd in den Vordergrund gestellt, sein Gerechtigkeitssinn, sein Sinn für Verantwortung und sein unnachgiebiges Eintreten für eine bestimmte Sache, so erleben wir Judge Dredd in „Day of Chaos“ von seiner faschistoiden Seite. Sein Crackdown in Sektor 50 ist nichts weiter als das komplette Ausrollen eines brutalen Polizeistaates, ohne Rücksicht auf irgendwelche Umstände. Bestes Zitat von Dredd des gesamten Bandes ist eine Antwort auf die Frage eines Kadetten, ob seine Herangehensweise nicht ein wenig „heavy handed“ sei? Dredd antwortet: „heavy handed beats soft touch every time“.
Es ist genau dieses Spannungsverhältnis zwischen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und absolut faschistoider Implementierung des selbigen, was den Charakter Dredd über die Jahre so interessant blieben ließ. Generell ist es faszinierend zu beobachten wie Hauptautor John Wagner seit den siebziger Jahren es immer wieder schafft, diesen Charakter und dessen Welt regelmäßig zu erneuern. Auf der einen Seite werden schnelle, unterhaltsame Geschichten geliefert, die sich klassischer Plotlines und Methoden bedienen. Gleichzeitig lässt es sich Wagner seit Jahrzehnten nicht nehmen, auf einer Metaebene Kritik an aktuellen Themen zu üben. Dies geschieht meist in klassisch britischem tiefschwarzem Humor. In „The Fourth Faction“ bekommt die Leistungsethik ihr Fett ab. Dort wird in wenigen Seiten das Schicksal des ehemaligen All Pro Light Hippoweight Champion Max Capacity beschrieben. Capacity ist ein alternder Fattie, der in einem letzten Wettkampf zeigen will, dass er nicht zum alten Eisen gehört. Hierbei liegt seine Leistung darin, möglichst viel zu essen und sich nicht zu übergeben. In bester britischer Tradition stopft er weiter in sich Essen hinein, obwohl um ihn herum ein Massaker vollzogen wird. Seine Ehefrau sorgt dafür, dass in dem gesamten Kugelhagel der Richter nicht verletzt wird, zumindest nicht solange, bis er ihren Ehemann zum Sieger erklärt hat. Das ganze Schauspiel ist dabei so grotesk, dass man sich kaum traut zu lachen.
Zeichnerisch bietet Day of Chaos die erste Riege der britischen Comiczeichner. Ben Willsher, Henry Flint und Colin McNeil liefern ihren bekannten eigenen Stil ab. Willsher ist der Kunstvollste von allen. Seine schweren, eckigen Striche gepaart mit oftmals leeren Räumen um die Figuren herum geben seiner Geschichte etwas gespenstisches und unterkühltes. Selbst die blutigsten Szenen, samt abgetrennten Gliedmaßen, wirken wie ein stilisierter Arthousefilm. Bei Henry Flint ist wie bei Carlos Ezquerra einfach alles schmutzig. Alles wirkt vermodert und mutiert. Sein krickeliger Stil, diese nervösen, wie direkt in Tusche hingeschmierten Seiten haben auch nach über zwanzig Jahren nichts von ihrem Reiz verloren. Colin McNeil zeichnet wiederum das tollste Kinn der gesamten Comicwelt. Sein Judge Dredd ist zugleich Marlboro Man und eine Parodie dessen. Er arbeitet mit großen dunklen Flächen, seine Zeichnungen wirken dabei im positiven Sinne altmodisch. Als letzter in der Runde liefert Staz Johnson solide Arbeit ab, die aufgrund des fehlenden eigenen Charakters der Zeichnungen etwas gegenüber den anderen Zeichnern abfällt. Solide bedeutet aber technisch sauber und wunderbar zu lesen.
„Day of Chaos: The Fourth Faction“ ist ein toller Einstiegsband. Die verschiedenen Handlungsstränge verlaufen auf unterschiedlichen Ebenen. Die Hauptgeschichte um die vierte Fraktion der East Meg One ist ein klassischer Thriller, samt Entführungen, Erpressungen und der Androhung des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen. Die Geschichte um PJ Maybe ist wiederum eine Parodie auf Serienmördergeschichten. Erweitert werden diese beiden Stränge noch um die Gastauftritte früherer Figuren. Wie in einer guten Seifenoper sehen wir die ehemalige Chief Judge Hershey wieder und verfolgen die Entwicklung der beiden Judge Dredd Mentee Logan und Beeny. Alles in allem ist „Day of Chaos: The Fourth Faction“ ein perfekter Band. Wenn man zum ersten Mal Judge Dredd lesen möchte, ist er hervorragend geeignet, da wir bei einer Zäsur in Mega City One einsteigen. Zum anderen führt er offen stehende Geschichten weiter und rekurriert auf Themen, die vor über dreißig Jahren stattfanden. Dieser Band ist toll, einfach toll.
Judge Dredd „Day of Chaos: The Fourth Faction“
Von John Wagner, Henry Flint, Staz Johnson, Colin McNeil, Ben Willsher