Wunderbares Erstlingswerk

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Der Geschmack von Chlor 

Von seinem Physiotherapeuten wird ein schwächlicher Patient zum Schwimmen geschickt. Widerwillig nimmt der Mann den Rat an und unternimmt unsportliche und ungelenke Schwimmversuche. Zufällig macht er im Schwimmbad die Bekanntschaft mit einer ehemaligen Wettkampfschwimmerin, die ihm hilft, seinen Schwimmstil zu verbessern. So lernt er immer mehr von ihr, bis sie eines Tages in männlicher Begleitung im Schwimmbad erscheint. 

Bastian Vivès legt in der vorliegenden Story sehr viel Wert auf Atmosphäre und Stimmungen. So fühlt man als Leser mit dem Patienten, der sich zunächst in einer dunklen und trostlosen Nacht mit einem Freund zum Schwimmen verabredet. Vivès muss auch ansonsten häufiger ein Schwimmbad besucht haben, denn neben der Haupthandlung um den Patienten, dessen Namen der Leser ebenso wenig erfährt wie den Namen der Schwimmerin, fügt er immer wieder Details ein, wie man sie von einem Besuch des Schwimmbades kennt. So gibt es überfüllte Zeiten, in denen ein Schwimmen kaum möglich ist, ein Mann, der ihn beim Duschen haargenau inspiziert oder auch Leute, die sich nur an den Beckenrand setzen, und erst gar nicht ernsthaft schwimmen wollen.

So leidet man als Leser fast schon mit den Patienten bei seinen ersten Schwimmversuchen. Chlor beißt in den Augen und das Wasser steigt ihm in die Nase. Auch mit der Kondition des Patienten wird es nur langsam und nach den ersten Trainingseinheiten mit der Schwimmerin besser. Parallel hierzu versteht er sich auch mit der Schwimmerin immer besser. Sehnsüchtig wartet er mittwochs, bis sie endlich das Schwimmbad betritt. Immer wieder wandert sein Blick zum Balkon, auf dem er sie immer zuerst sehen kann.

Als sie ihm eine Botschaft unter Wasser zukommen lässt, die er nicht entschlüsseln kann, ist er auf den nächsten Mittwoch und die angekündigte Auflösung gespannt.

Ich möchte an dieser Stelle nicht darauf eingehen, wie Vivès seine Story zu Ende erzählt. Es sei lediglich versichert, dass es eine Menge Interpretationsspielraum gibt und genau den sollte jeder Leser dieser Story für sich ausüben, da gerade hierin unter anderem der Reiz liegt.

Ebenso beeindruckend ist die atmosphärische Dichte dieser Story, die Vivès mit nahezu lakonischen Dialogen und der zeichnerischen Gestaltung des Schwimmbades erreicht. Gerade dieses Schwimmbad wirkt so steril, dass man als Leser mit ins Schwimmbecken eintaucht und den Geschmack von Chlor auf der Zunge hat.

Vivès steht erst am Anfang seiner Karriere. Dennoch hat er schon zahlreiche Stories geschrieben und gezeichnet. Ich bin mir sicher, dass Reprodukt hiervon noch einige veröffentlichen wird. Die Entscheidung, als deutsches Erstlingswerk, diese preisgekrönte Story zu veröffentlichen, war auf jeden Fall richtig. 

Der Geschmack von Chlor, Reprodukt, 143 Seiten, SC, 18 €

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