Episches Meisterwerk

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Tamara Drewe 

Stonefield ist eine kleine abgelegene Farm in England, die als Refugium für verschiedene Autoren dient und deren Abgeschiedenheit schon so mancher Autor nutzen konnte, um seine Schreibblockade zu überwinden. Die Betreiber von Stonefiedls, Beth und Nicholas, durchleben Beziehungsprobleme, deren Zeuge Glen, einer der Gäste, der seit mehreren Jahren an einem Buch schreibt, wird.

Die heile Welt des kleinen Dorfes wird völlig auf den Kopf gestellt, als Tamara Drewe, einst ein Mauerblümchen und nach einer Nasenkorrektur eine attraktive, junge Dame und zugleich eine angesehene Klatschkolumnistin, die für eine Londoner Zeitung arbeitet, die Farm ihrer verstorbenen Mutter erbt und bezieht. Umgehend zieht sie die Männer des Dorfes in ihren Bann.

In London lernt Tamara Drewe Ben, einen Rock-Star, der sich von seiner Band getrennt hat, kennen und lieben. Ben schätzt das Landleben überhaupt nicht und überrascht Tamara Drewe mit seinem Angebot, gemeinsam nach Los Angeles zu ziehen.

Auf Ben werden zwei Mädchen, Casey und Jody, aufmerksam. Sie erkennen ihn nicht nur, sondern besonders Jody entwickelt eine Art Besessenheit.

Immer wieder dringen sie in Tamaras Farm ein, sobald sich Tamara Drewe und Ben in London befinden und so das Haus leer steht. Als Jody dann noch eine Email mit eindeutig zweideutigem Inhalt an Andy, Nicholas und Ben abschickt, trennen sich Tamara Drewe und Ben. Tamara beginnt stattdessen eine Affäre mit Nicholas, während sich Beth noch über ihren sichtlich gut gelaunten und aufgeräumten Mann freut. Diese Affäre bleibt so langte geheim, bis Nicholas eine Reifenpanne hat und ihm Tamara Drewe hilft. Da sich das Paar unbeobachtet fühlt, küssen sie sich. Dies wird aber von Casey und Jody beobachtet. Casey macht mit ihrem Handy hiervon ein Foto, da sie wenig später Beth anonym zuschickt. Ungewollt lösen die beiden Teenager so weitere Ereignisse aus.

Posy Simmonds beginnt ihre Graphic Novel nahezu klischeehaft. Eine junge Dame hat sich äußerlich verändert und in der Fremde Erfolg. Dies weckt natürlich die Skepsis der Dorfbewohner. Ihre Rückkehr verursacht sodann eine gewisse Unordnung und Unruhe in dem ländlichen Idyll. Das war es aber auch schon mit den Klischees, mit denen die Autorin umgehend wieder bricht. Allein die Herangehensweise von Posy Simmonds, die sowohl die Handlung, aber auch die Charaktere aus der Perspektive verschiedener Figuren schildert, schafft eine Tiefgründigkeit, wie man es als Leser von Comics nur selten erleben darf. Und genau diese ungewöhnliche Herangehensweise fesselt den Leser.

Mit der Charakterisierung ihrer Titelfigur lässt sich Simmonds ungewöhnlich viel Zeit. So dass der Leser gefordert ist, ihre Handlung einzuordnen. Ich wette, dass dies auch sehr unterschiedlich ausfallen würde und sich in der kompletten Bandbreite zwischen unverstandene, junge Dame und „Schlampe“ bewegen wird. Simmonds zeigt damit auf, dass man sich erst ein Urteil über einen Menschen bilden sollte, wenn man ihn näher oder im besten Fall all seine Vorzüge und Nachteile kennt, denn auch Tamara Drewe durchlebt im Laufe der Handlung einige Änderungen.

Auch die anderen Charaktere bewegen sich scheinbar in Klischees. So ist Ben ein abgehalfterter Rock-Star und Egomane, Nicholas eine intellektueller Frauenheld und Beth die eifersüchtige Ehefrau und das treusorgende Hausmütterchen. Doch wenn man genauer hinschaut, was sich bei dieser komplexen Handlung durchaus lohnt, versieht Simmonds ihre Charaktere mit individuellen Facetten, deren Spannungsfeld in der Interaktion dieser Charaktere die Handlung trägt. Und wenn Simmonds scheinbar auf der Stelle tritt, fügt sie, wie beispielsweise mit Casey und Jody zwei gelangweilte Teenager hinzu, die wiederum neue Handlungsstränge auslösen. So sind es insbesondere scheinbare Nebensächlichkeiten und Nebenstränge, die sich dann als fester Bestandteil der Hauthandlung herauskristallisieren und ihr so neue Impulse verleihen. Gerade diese überraschenden Wendungen sind ein weiterer Aspekt, der das Besondere an Tamara Drewe ausmacht.

Der Schluss, den ich ausdrücklich nicht verraten möchte, versöhnt die Charaktere miteinander. Doch auch hier achtet Simmonds darauf, dass diese Versöhnung nicht zu harmonisch verläuft und besonders für Glen ein schaler Beigeschmack bleibt.

Denn Simmonds legt ihr Augenmerk darauf, zu schildern, dass hinter der Fassade eines ländlichen Idylls die Charaktere unabhängig von ihrer Bildung und ihrem Berufsstand sich gar nicht so sehr unterscheiden und sich in ihren Eitelkeiten und Begierden doch sehr ähnlich sind.

Es ist schwierig zu prognostizieren, welche Comics und Graphic Novels in 2010 noch veröffentlicht werden, aber Tamara Drewe von Posy Simmonds zählt schon jetzt für mich zu einem der Werke diesen Jahres. 

Tamara Drewe, Reprodukt, 135 Seiten, 20 €

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